Zu Risiken und Nebenwirkungen: (Heraus-)Forderungen der Wirkungsforschung zu OER

Vor dem Hintergrund zeitgemäßer Bildung und steigender Schulbuchkosten nimmt die Diskussion um Open Educational Resources (OER) weiter Fahrt auf (Heimstädt & Dobusch 2017). OER sind offen lizenzierte sowie frei nutz-, veränder- und teilbare Bildungsmaterialien wie z.B. Arbeitsblätter oder auch Lernvideos. Lehrende und Lernende können kostenlos darauf zugreifen und die bereits erstellten und geteilten Materialien Anderer nutzen, ohne jedes Mal das Rad neu erfinden zu müssen oder das Urheberrecht zu verletzen (vgl. OERinfo). So die Idee. 

Doch die politischen und strukturellen Rahmenbedingungen für den Einsatz von OER sind noch stark ausbaufähig (Orr, Neumann & Muuß-Merholz 2017). Ein Grund könnte darin liegen, dass empirische Untersuchungen zu offenen Bildungsmaterialien im deutschsprachigen Raum nur geringfügig vorhanden sind und primär Beschreibungen des Ist-Zustands oder Zusammenhänge umfassen (Bellinger und Mayrberger 2019; Lechtenbörger 2019; Otto 2020b, 2019). Wo bleiben also Forschungsergebnisse zu den Wirkungen von OER? 

Einmal doppelten Idealismus, bitte!

OER wurden im Laufe der letzten Jahre etliche Wirkungen zugeschrieben: Sie sollen Inklusion und Bildungsgerechtigkeit fördern (Otto 2020 a; UNESCO 2013), Kosten verringern sowie Lehrkräfte entlasten (Krug 2019; Bliss, Hilton, Wiley & Thanos 2013). Bisher liegt aber nur wenig empirisches Wissen über OER vor und somit ist nicht hinreichend nachweisbar, dass OER eine tragfähige Lösung für die aktuellen Herausforderungen im Bildungsbereich sind. Als Konzept werden OER deswegen oft genug als idealistische Wunschvorstellung abgetan. 

Wirkungsforschung kann an dieser Stelle ein Instrument sein, um Steuerungswissen zu generieren, evidenzbasierte Forderungen an die (Bildungs-)Politik stellen zu können, auf dieser Grundlage Maßnahmen zu entwickeln und Anreize zu schaffen (Albus & Ziegler 2013; van Akeren, Zlatkin-Troitschanskaia, Binnewies, Clausen, Dormann, Preisendörfer, Rosenbusch & Schmidt 2011). Jetzt sind wir alle überzeugt, oder? Leider funktioniert es in der Praxis nicht ganz so. 

Wirkungsforschung wird im wissenschaftlichen Diskurs teilweise als “positivistisch” bezeichnet (Albus & Ziegler 2013). Es schwingt mit, dass sie gern überschätzt und der Nutzen für die Praxis idealisiert wird. Im worst case werden die Ergebnisse gar nicht genutzt, Graebsch (2018) hat das im Kontext von Wirkungsforschung in der Sozialpädagogik etwas bitter mit “Who cares?” zusammengefasst. Wie kann Wirkungsforschung zu OER also aussehen? 

Die große Blackbox

Wirkungsforschung geht in den meisten Fällen der Frage nach, welches Vorgehen am effektivsten ist, also die höchste Wahrscheinlichkeit hat, ein vorab bestimmtes Ziel zu erreichen (Sager, Hadorn, Balthasar & Mavrot 2021; Zeuner & Pabst 2020; Albus & Ziegler 2013). In der Medizin werden klassischerweise zwei Gruppen verglichen: Eine Gruppe bekommt ein Medikament, die andere ein Placebo. Die Teilnehmenden wissen nicht, ob sie das Medikament oder ein Placebo bekommen und die Wirkungen werden schließlich miteinander verglichen. So lassen sich Aussagen dazu tätigen, welche Wirkung durch welche Medikamentendosis hervorgerufen wird und wie groß diese Wirkung ist. Aber wie “verabreichen” wir OER und ein entsprechendes Placebo? 

Wir bewegen uns mit OER in den Bildungswissenschaften, hier können beispielsweise die Zufriedenheit von Lehrkräften und Schüler:innen, der Lern- und der Transfererfolg,  Kosteneinsparungen im Bildungssektor oder bessere Schulnoten als vorab bestimmtes Ziel untersucht werden. 

Schwierig daran ist, die Wirkungen von OER in einem komplexen Gefüge wie Schule eindeutig zu identifizieren (Zeuner & Pabst 2020). Denn die Rahmenbedingungen in Bildungskontexten (vgl. Rahmenmodelle in Gerecht, Steinert, Klieme & Döbrich 2007) sind Einflussfaktoren, die aufwändig durch statistische Verfahren herausgefiltert werden müssen (Kontrollvariablen), um die Wirkungen auf das vorab bestimmte Ziel OER zuordnen zu können. Hier sprechen wir nicht von nachvollziehbaren biochemischen Reaktionen, sondern von sozialen, emotionalen, kognitiven und kommunikativen Prozessen. Dazu kommt die Herausforderung, dass Aspekte von OER in der Bildungspraxis umgesetzt werden, allerdings ohne, dass die Lehrkräfte ihr Handeln als “OER” labeln, da ihnen der Begriff nicht bekannt ist (Bretschneider, Muuß-Merholz & Schaumburg 2012). Für einige der zugeschriebenen Wirkungen von OER sind demnach keine validen Aussagen zu Ursache und Wirkung möglich, da die Wechselwirkungen zu komplex sind. Was sollen wir jetzt also tun? 

Keine Forschung ist auch keine Lösung 

Insgesamt sind OER ein verhältnismäßig junges Forschungsthema, immerhin werden sie erst seit den frühen 2000er Jahren als solche diskutiert und erforscht (Armellini & Nie 2013). Das Erkenntnisinteresse ist groß – besonders wegen der vielen zugeschriebenen Wirkungen. Doch um ergiebige Erkenntnisse zu gewinnen und Antworten zu finden, brauchen wir erst einmal die richtigen Fragen. Otto, Schröder, Diekmann & Sander haben 2020 einige Forschungslücken und Desiderate identifiziert. Darunter der Einbezug etablierter Ansätze und Theorien der Bildungswissenschaft, der empirisch belegten Effekte der OER-Nutzung auf das pädagogische Handeln und die damit verbundene Veränderung der bestehenden Bildungspraxis. Hier könnte man wunderbar anknüpfen und eine öffentliche Übersicht aktueller Forschungsfragen zu OER unter Einbezug aller beteiligten Akteure erstellen. Damit sind u.a. Zivilgesellschaft, wie gemeinnützige Organisationen, die ihre Bildungsressourcen offen zugänglich machen oder welche für ihre Arbeit nutzen, sowie die OER-Communities, Bildungspolitik und Wissenschaft gemeint (vgl. (Bretschneider, Muuß-Merholz & Schaumburg 2012).

Eine weitere Idee besteht in der verstärkten Förderung für OER-Forschung und zwar nicht nur als Methode (Open Access), sondern als Forschungsgegenstand selbst, konkreter: Die Einrichtung von Forschungsgruppen, die breit sichtbar sind (weh mir, du schmerzlich vermisste OER-Map). 

Neben diversen Machbarkeitsstudien (vgl. Blees et al. 2016), Frameworks (vgl. Armellini & Nie 2013; Nikoi, Rowlett, Armellini & Witthaus 2011) und Kategorisierungen von OER (vgl. Kerres & Heinen 2015; Otto, Schröder, Diekmann & Sander 2020) bräuchte es die Entwicklung von OER-Erhebungsinstrumenten, also eine Sammlung von wissenschaftlich fundierten Fragen, die jeweils einem Thema (Konstrukt) zugeordnet werden können. 

Das zahlt auf mindestens zwei langfristige Möglichkeiten ein: Die bestehenden Definitionen von OER, die sich teilweise unterscheiden (Armellini & Nie 2013; Bretschneider, Muuß-Merholz & Schaumburg 2012), können durch diese Instrumente als wissenschaftlicher Konsens abgebildet werden und zur Systematisierung der OER-Forschung beitragen. Darüber hinaus können die Wirkungen von OER über die Zeit nachvollzogen werden (Längsschnitt).

1 Wunschkonzert

Forschung zu OER gibt es vor allem im Hochschulbereich (Otto, Schröder, Diekmann & Sander 2020; Bretschneider, Muuß-Merholz & Schaumburg 2012), dabei wären die Wirkungen von OER besonders im Kontext von Grund- und weiterführenden Schulen interessant. Denn das hier vermittelte Wissen ist deutschlandweit ähnlicher und die Schulklassen heterogener als z.B. ein Seminar über Literatur der Spätromantik an einer Universität (Dumont, Maaz, Neumann & Becker 2014). 

Wirkungen können von verschiedenen Akteuren als positiv oder negativ empfunden werden, und der Einbezug von Forschungsergebnissen zu Wirkungen in politische Entscheidungsprozesse ist u.a. vom Auftraggeber abhängig. Deswegen sollte Wirkungsforschung möglichst unabhängig finanziert und durchgeführt werden. Inwiefern Forschungsergebnisse in Politik und Praxis einbezogen werden, kann daneben durch Wissenschaftskommunikation beeinflusst werden. 

Apropos: OER sind ein interdisziplinäres Thema und Forschung dazu betrifft viele und verschiedene Zielgruppen (Krug 2019; Bretschneider, Muuß-Merholz & Schaumburg 2012; van Ackeren et al. 2011). Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung sollte idealerweise über die wissenschaftliche OER-Filterblase hinausgehen und von der Forschung für verschiedene Zielgruppen zugänglich gemacht werden. Das bedeutet, wissenschaftliche Ergebnisse nicht nur mit einer offenen Lizenz im Internet hochzuladen, wo es vor allem andere Wissenschaftler:innen erreicht, sondern zusätzlich dafür zu sorgen, dass die Informationen für verschiedene Zielgruppen aufbereitet werden, z.B. indem mehrere Sinne angesprochen werden, die Ergebnisse in Podcasts diskutiert oder in einer öffentlichen Diskussion vorgestellt werden. So können Transparenz und Partizipation an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis gefördert werden. 

Mit der Forschung allein ist es nicht getan, es fehlen evidenzbasierte Handlungsempfehlungen und Implementationsstrategien, die aus den Forschungsergebnissen abgeleitet werden können (Otto, Schröder, Diekmann & Sander 2020) und die bisher nur vereinzelt und für sehr spezifische Kontexte vorliegen (z.B. Heimstädt & Dobusch 2017). Hierfür braucht es eine (öffentliche) Diskussion zwischen Wissenschaft, Politik und Bildungspraxis. 

Und zu guter Letzt: Ich greife hier meinen Artikel von 2020 bei OERinfo auf, der den Titel “Wirkungsforschung zu OER” trägt. OER sind ein Teil von Open Educational Practices, kurz: OEP (vgl. Bellinger & Mayrberger 2019; Cronin & MacLaren 2018), die offene Pädagogik (Wiley & Hilton 2018; Armellini & Nie 2013), offene Software und vieles mehr (Bretschneider, Muuß-Merholz & Schaumburg 2012) umfassen. Während OER den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs über Jahre hinweg dominierten, wird sich zunehmend in Richtung OEP orientiert und das sollte auch in der Wirkungsforschung Beachtung finden.

Soweit von meiner Seite. Was sind eure Gedanken, Ideen, Fragen und Wünsche an die Wirkungsforschung zu OER und OEP? 

Quellen

Bellinger, F., & Mayrberger, K. (2019). Systematic Literature Review zu Open Educational Practices (OEP) in der Hochschule im europäischen Forschungskontext. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung. https://doi.org/10.21240/mpaed/34/2019.02.18.X.

Blees, I., Hirschmann, D., Kühnlenz, A., Rittberger, M., Schulte, J., Cohen, N., Massar, T., Heinen, R., Kerres, M., Scharnberg, G., & Khenkitisack, P. (2016). Machbarkeitsstudie zum Aufbau und Betrieb von OER-Infrastrukturen in der Bildung (Stand: Februar 2016). Frankfurt a. M. Verfügbar unter: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0111-pedocs-117154 [letzer Zugriff am 02.08.2023].

Bliss, T. J., Hilton III, J., Wiley, D., & Thanos, K. (2013). The cost and quality of open textbooks: Perceptions of community college faculty and students.

Bretschneider, M., Muuß-Merholz, J., & Schaumburg, F. (2012). Open Educational Resources (OER) für Schulen in Deutschland. Whitepaper zu Grundlagen, Akteuren und Entwicklungsstand im März 2012.

Cronin, C., & MacLaren, I. (2018). Conceptualising OEP: a review of theoretical and empirical literature in Open Educational Practices. Open Praxis, 10(2), 127–143. https://doi.org/10.5944/openpraxis.10.2.825.

Dumont, H.; Maaz, K.; Neumann, M.; Becker, M.: Soziale Ungleichheiten beim Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I. Theorie, Forschungsstand, Interventions- und Fördermöglichkeiten. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 17 (2014) Suppl.24, S. 141-165. DOI:10.25656/01:12370; 10.1007/s11618-013-0466-1. 

Gerecht, M.; Steinert, B.; Klieme, E.; Döbrich, P.: Skalen zur Schulqualität. Dokumentation der Erhebungsinstrumente. Pädagogische Entwicklungsbilanzen mit Schulen (PEB). Frankfurt, Main: GFPF u.a. 2007.

Graebsch, C. M. (2018). What works? Who cares? Evidenzorientierte Kriminalprävention und die Realität der Jugendkriminalpolitik. Handbuch Jugendkriminalität: Interdisziplinäre Perspektiven, 197-216.

Heimstädt, M. & Dobusch, L. (2017). Perspektiven von Open Educational Resources (OER) für die (sozio-)ökonomische Bildung an Schulen in NRW und in Deutschland.

Kerres, M., & Heinen, R. (2015). Open informational ecosystems: the missing link for sharing educational resources. International Review of Research in Open and Distance Learning, 16(1), 24–39. https://doi.org/10.19173/irrodl.v16i1.2008.

Krug, R. (2019). Aspekte von Open Educational Resources vor dem Hintergrund der Ökonomisierung des Bildungssektors. Verfügbar unter: https://core.ac.uk/download/pdf/270293518.pdf [zuletzt eingesehen am 02.08.2023].

Lechtenbörger, J. (2019). Erstellung und Weiterentwicklung von Open Educational Resources im Selbstversuch. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung. https://doi.org/10.21240/mpaed/34/2019.03.02.X. 

Nikoi, S. K., Rowlett, T., Armellini, A., & Witthaus, G. (2011). CORRE: a framework for evaluating and transforming teaching materials into open educational resources. Open Learning: The Journal of Open, Distance and e-Learning, 26(3), 191-207.

OERinfo – Informationsstelle OER: Was ist OER? https://open-educational-resources.de/was-ist-oer-3-2/ [letzter Zugriff am 02.08.2023]. 

Orr, D., Neumann, J., & Muuß-Merholz, J. (2017). German OER practices and policy—from bottom-up to top-down initiatives. Moskau: UNESCO Institute for Information Technologies in Education.

Otto, D. (2019). Adoption and diffusion of open educational resources (OER) in education: a meta-analysis of 25 OER-projects. International Review of Research in Open and Distance Learning, 20(5), 122–140. https://doi.org/10.19173/irrodl.v20i5.4472. 

Otto, D. (2020a). „Grosse Erwartungen: Die Rolle Von Einstellungen Bei Der Nutzung Und Verbreitung Von Open Educational Resources“. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie Und Praxis Der Medienbildung 2020 (Occasional Papers), 21-43. https://doi.org/10.21240/mpaed/00/2020.02.26.X.

Otto, D. (2020b). Offene Bildungsmaterialien in der Schule für das Lehren und Lernen in der digitalen Welt: Cui bono? In K. Kaspar, M. Becker-Mrotzek, S. Hofhues, J. König & D. Schmeinck (Hrsg.), Bildung, Schule, Digitalisierung (S. 77–82). Münster: Waxmann. https://doi.org/10.31244/9783830992462. 

Sager, F., Hadorn, S., Balthasar, A., & Mavrot, C. (2021). Die Entstehung und Etablierung der Wirkungsforschung. In Politikevaluation: Eine Einführung (pp. 39-64). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.

UNESCO – Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (2013). Was sind Open Educational Resources? Und andere häufig gestellte Fragen zu OER. Bonn. Verfügbar unter: https://www.unesco.de/sites/default/files/2018-04/Was_sind_OER__cc.pdf [letzter Zugriff am 02.08.2023].

van Ackeren, I., & Zlatkin-Troitschanskaia, O. (2011). Evidenzbasierte Schulentwicklung: Ein Forschungsüberblick aus interdisziplinärer Perspektive. DDS–Die Deutsche Schule, 103(2), 170-184.

Wiley, D. A., & Hilton, J. (2018). Defining OER-enabled pedagogy. International Review of Research in Open and Distance Learning, 19(4), 133–147. https://doi.org/10.19173/irrodl.v19i4.3601.

Zeuner, C., & Pabst, A. (2020). Wirkungen von Bildungsprozessen: messbar oder nachweisbar?. Messbarkeit von Bildungseffekten: Potenziale-Widersprüche-Schieflagen.

Der Dualismus der Daten und die Bedeutung von Algorithmen

Wir interagieren bei der Internetnutzung im Alltag mit diversen Algorithmen, sei es auf unseren Social-Media-Profilen, beim Surfen im Web, beim Lesen einer Online-Zeitung oder beim Schauen eines YouTube-Videos. Algorithmen erweisen sich als nützliche Helfer, denn sie ermöglichen z.B. beim Online-Shopping die Speicherung des Warenkorbs beim Verlassen der Website. Dabei nehmen wir diese Algorithmen kaum aktiv wahr, was hat es also mit ihnen auf sich und welche Kehrseiten müssen wir bedenken?

Unsichtbares Protokoll

Ein Algorithmus ist ein Satz von Routinen, Regeln oder Befehlen. Da Algorithmen in der Regel auf der Benutzeroberfläche unsichtbar sind, werden sie auch als “Blackbox” bezeichnet. Die Funktionsweise ist Internetzutzenden nicht immer bekannt und dadurch fehlt eine Sensibilisierung für potentielle Bedrohungen: Algorithmen werden versteckt, um das geistige Eigentum zu schützen, die Details vor den Nutzenden zu verbergen und deren „Interaktion“ mit dem System mühelos zu gestalten. Dadurch wird aber gleichzeitig verhindert, dass die Nutzenden die Einzelheiten der Funktionsweise oder sogar die Existenz algorithmischer Systeme verstehen. Unabhängig davon, ob das Verständnis der Nutzenden vorhanden ist oder nicht, kann ihr wahrgenommenes Wissen über einen Algorithmus dennoch ihr Verhalten beeinflussen, weshalb ein Bewusstsein für diese Prozesse wichtig ist. Dazu gehört, Algorithmen transparent zu machen – zumindest auf der Ebene, die für eine verantwortungsvolle Nutzung erforderlich ist – und Menschen dabei zu unterstützen, ihr Verhalten im Internet verantwortungsvoll zu gestalten.

Das Risiko der Filterbubble

Algorithmen sortieren Daten auf der Grundlage dessen, was uns zu gefallen scheint, und schlagen uns darauf basierend ähnliche Inhalte vor. Künstliche Intelligenz (KI) kann bei der Sortierung derartig großer Datenmengen äußerst effizient sein. Sie filtert durch Klassifikationen und Priorisierungen von Informationen den Inhalt, den wir täglich online sehen. So werden uns individuell zugeschnittene Online-Inhalte und Dienste auf der Grundlage unserer Gewohnheiten, Vorlieben und Identitätsmerkmale angeboten. Automatisiert bestimmen sie unsere Informationsquellen und damit auch unsere Perspektive auf die Welt und auf andere. Diese Filterblase führt zu einer Reproduktion unserer bereits bestehenden Meinungen und spitzt sie eventuell noch zu, denn andere Perspektiven werden ausgeblendet. Filterblasen können uns so zwar Zeit bei der Suche nach neuen Inhalten sparen, aber auch unser Weltbild stark beeinflussen und kognitive Verhaltensweisen wie Impulsivität und Ablenkung verstärken. Werden wir uns dieser Blasen bewusst, können wir Online-Inhalte differenzierter betrachten und den Algorithmus gezielt beeinflussen, indem wir z.B. nach anderen Perspektiven auf ein Thema suchen.

Das Risiko von Personalisierung und Profilierung

Mit der zunehmenden Anzahl an Personalisierungstechnologien durch kommerzielle Plattformen wie Amazon, Netflix oder Spotify wächst auch die Anzahl der Datenverfolgungspraktiken, die dazu dienen, Rückschlüsse auf die alltäglichen Gewohnheiten und soziokulturellen wirtschaftlichen Verhaltensweisen abzuleiten. Zu den aktuellen Strategien der Datenverfolgung gehören das Sammeln von Browserverläufen, „Likes“, Kauf- und Suchverläufen, Geolokalisierung, App-Interaktionen, hochgeladenen Fotos, mobilen und anderen hörbaren Gesprächen, geschriebenen Kommentaren, geräteübergreifenden Aktivitäten und IP-Adressen, Inhalten von E-Mails, sozialen Kontakten, Song-Downloads, Kreditvergangenheit, Film-/Fernsehverhalten, Spiele-Highscores und eine Vielzahl anderer nachvollziehbarer alltäglicher Handlungen. Benutzerinformationen und Suchanfragen werden in Datenbanken zusammengefasst, um Kaufabsichten, Wünsche und Bedürfnisse verstehen und voraussagen zu können, welche dann in Echtzeit mit Verhaltensmodellen abgeglichen werden können. Klicks kommt dabei ein eine Schlüsselrolle zu, denn sie werden als Muster von Verhaltensweisen „gelesen“. Anhand dieses Klickverhaltens produzieren Algorithmen Wissen, das zu komplexen Profilen verdichtet wird. Um dieses Profil aktiv verändern zu können, benötigen Nutzende ein Bewusstsein für diese Prozesse und Zugang zu ihrem Profil. Diese sind meist weder transparent noch beeinflussbar, da die Verfahren zur Errechnung von Profilen in der Regel Geschäftsgeheimnis sind. Eine Ausnahme ist Google: Eingeloggten Nutzenden wird die Möglichkeit geboten, das über sie erstellte Profil einzusehen und anzupassen. Sie können ihr persönliches Interessenprofil in den Einstellungen bei den Ad Preferences einsehen.

Was bedeutet “Algorithmic Literacy”?

Unter Algorithmic Literacy wird verstanden, über ein Bewusstsein für die Verwendung von Algorithmen in Online-Anwendungen, -Plattformen und -Diensten zu verfügen, die Funktionsweise von Algorithmen zu kennen, algorithmische Entscheidungen kritisch bewerten zu können sowie die Kenntnis mit algorithmischen Vorgängen umzugehen und sie zu beeinflussen. Praktisch bedeutet dies, dass Individuen in der Lage sind, Strategien zur Änderung vordefinierter Einstellungen in algorithmisch kuratierten Umgebungen, wie z. B. in ihren Social Media Newsfeeds oder Suchmaschinen anzuwenden. Das Ziel hierbei ist, die Ergebnisse verschiedener algorithmischer Entscheidungen zu vergleichen, um die Perspektivenvielfalt zu erhalten und die eigene Privatsphäre zu schützen. Algorithmic Literacy kann dementsprechend als ein Aspekt von Medienkritik und -kompetenz betrachtet werden.

Mittlerweile sollte deutlich geworden sein, dass es im algorithmischen Kontext auch immer um Datensammlung, Datenverarbeitung und Datenaustausch geht.  Dementsprechend ist auch der Datenschutz ein wichtiges Thema, wenn die Rede von einer Algorithmic Literacy ist. Besonders Social-Media-Algorithmen werden so designt, dass schnell Abhängigkeiten entwickelt werden können. Um dem entgegenzuwirken, kann ein erster Schritt darin bestehen, die Benachrichtigungen der Apps einzuschränken und sich seiner Nutzungszeit bewusst zu werden. Ein Projekt, das sich dafür einsetzt, ist das Algorithm & Data Literacy Project der UNESCO, das verschiedene Materialien zur Aufklärung über Algorithmen und ihre Auswirkungen auf den Menschen und die Gesellschaft, die auch für Kinder und den Unterricht geeignet sind, kostenlos bereitstellt. Wer mehr zu Algorithmen im Unterricht erfahren möchte, kann sich hier unser Video auf YouTube ansehen.


Quellen

Leyla Dogruel, Philipp Masur & Sven Joeckel (2022) Development and Validation of an Algorithm Literacy Scale for Internet Users, Communication Methods and Measures, 16:2, 115-133, DOI: 10.1080/19312458.2021.1968361

https://algorithmliteracy.org/https://www.pewresearch.org/internet/2017/02/08/theme-7-the-need-grows-for-algorithmic-literacy-transparency-and-oversight/

https://algorithmliteracy.org/